Warum vergeben 🍹

Die Unfähigkeit zu vergeben

Was ist Verbitterung?

Verbitterung ist eine komplexe Emotionen, die sich aus Basisemotionen zusammensetzt. Hierzu gibt Herr Linden ein eindrückliches Beispiel.

  • Frustration: Sie verpassen gerade den Bus.
  • Scham: Sie müssen sich erkären, warum sie den Bus verpasst haben.
  • Ärger: Der Fahrer hat gesehen, wie sie kommen und ist trotzdem losgefahren.
  • Zorn: Sie waren sogar an der Tür und der Fahrer ist trotzdem losgefahren.
  • Aggression: Sie haben den Eindruck, dass der Fahrer es absichtlich gemacht hat.
  • Kränkung: Der Busfahrer hat den Stinkefinger gezeigt.
  • Hilfslosigkeit: Sie stellen fest, dass man nichts mehr tun kann, weil der Bus weg ist.
  • Hoffnungslosigkeit: Es wird sich nichts ändern, weil es der letzte Bus war.
  • Verbitterung und Hass: Der Bus wäre wichtig gewesen, um ein Vorstellungsgespräch zu erreichen, welches das Leben verändert hätte haben können.

Woher kommt Verbitterung?

  • Kann sich auf Individuen als auch auf Gesellschaften (Denkmäler) beziehen.
  • Identität und Grundannahmen prägen sich zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr.
  • Grundannahmen sind Generationsübergreifend.
  • Gerechtigkeitssinn und Moral sind womöglich angeboren.
    • Werden diese verletzt, reagiert der Mensch mit Aggression.
    • Ungerechtigkeit (“Psychoterror”) ist heute die einzig legale Form des Widerstands.
    • Daher hat Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert bekommen.
    • Chronische Verbitterung kann das Ergebnis von Ungerechtigkeit sein.
  • Verbitterung kann ein starker Treiber sein: “Ich zeige es euch allen und hole die Goldmedaillie!”

Aggression unter inkaufnahme der Selbstzerstörung.

Definition von Verbitterung
  • Panik und Verbitterung helfen in ausweglosen Situationen zu überleben.
  • Gefahr des Teufelskreises
    • Begünstigt durch Schuldsuche im Umfeld: Verursacher muss sich ändern.
    • Fehlende Akzeptanz der Endgültigkeit.
    • Reaktivierung der negativen Vergangenheit.
      (State Dependant Memory durch Emotionen getrieben)
    • False Memory: Erinnerungen können langfristig mutieren.

Was tun gegen Verbitterung?

Wir als Menschen stecken ständig in Dilemmata von Werten. Werte können kulturell, familiär oder vom Inneren kommen. Um diese Dilemmata aufzulösen ist Weisheit wichtig. Diese Kompetenz kann verstanden werden als Schatz an Erfahrung und die Fähigkeit, zu philosophieren. Dabei ist nach PrechtPhilosophie” nicht zu verstehen als “Liebe zur Weisheit”, sondern als “Suche nach der Weisheit“. Weisheit ist die Fähigkeit Lösungen nach täglichen Problemen (Dilemmata) zu finden. Allerdings deckt Weisheit nur den rationalen Teil des Prozesses zur Problemlösung ab.

Der Prozess des Vergebens ist der emotionale Teil, welcher nicht weniger wichtig ist. Ziel ist es, sich von der Ursache oder dem Verursacher emotional unabhängig zu machen.

  • Rechtfertigung: Ursachen und Gründe suchen.
  • Verständnis: Empathie zeigen und verstehen. Es ruft keinen Ärger hervor.
  • Vergeben: Den eigenen Groll und Resentment beenden.
  • Verzeihen: Die Vergebung mitteilen und kund machen.
  • Begnadigung: Sanktionen beenden und Strafe erlassen.
  • Versöhnung: Eine weitere Chance geben.
  • Vergessen: Die Verletzung ist vergessen.

Pessimistisch gesehen lautet die Strategie, sich die Vergangenheit schön reden und eine Illusion aufbauen. Man darf sich nicht abhängig von Reuegefühlen anderer Menschen machen sondern sollte einen gewissen Optimismus im Blick behalten. Precht ist eine unheimlich belesene Person, von der man Vieles mitnehmen kann.

Ein Optimist, der in seinen Idealen am Ende enttäuscht worden ist, hat immer noch ein erfüllteres Leben geführt als ein Pessimist, der sich bestätigt sieht.

Richard David Precht

Wie verzeihen?

Wie verzeiht man Dinge, die eigentlich unverzeihlich sind?

Von Maren Keller • 05.03.2020, 00:51 Uhr

Robert Enright ist Professor für Psychologie an der Universität Wisconsin-Madison und Mitbegründer des Forschungsinstituts International Forgiveness Institute. Er hat mehrere Bücher über das Verzeihen geschrieben. Ins Deutsche übersetzt wurde zuletzt Vergebung als Chance – Neuen Mut fürs Leben finden. Der Psychologe Robert Enright erklärt im Interview, wie man es schafft zu vergeben – und warum das so wichtig für die eigene Gesundheit ist.

  • SPIEGEL: Mr Enright, seit mehr als drei Jahrzehnten beschäftigen Sie sich mit der Psychologie des Verzeihens. Sie haben mit Frauen gearbeitet, die psychische Gewalt in Beziehungen erfahren haben. Mit Angehörigen von Menschen, die Suizid begangen haben. Mit Gefängnisinsassen und Familien in der ehemaligen Krisenregion Nordirland. Ist Ihnen jemals etwas untergekommen, das so schlimm war, dass man es nicht verzeihen kann?
  • Enright: Nein. Ich habe Menschen kennengelernt, die ihr Kind durch Mord verloren haben und in der Lage waren, dem Mörder zu verzeihen. Aber ich kenne genauso Menschen, die nicht verstehen können, wie man so etwas verzeihen kann. Wenn ich in all den Jahren meiner Karriere etwas gelernt habe, dann ist es dies: Wir müssen gnädig und mitfühlend gegenüber jenen sein, die etwas verziehen haben. Aber genauso gegenüber jenen, die nicht verzeihen können.
  • SPIEGEL: Warum fällt es manchen Menschen leichter zu verzeihen als anderen?
  • Enright: Die Antwort darauf findet man bereits bei Sokrates, Platon oder Aristoteles. Schon die griechische Philosophie wusste, dass es drei Arten gibt, um Tugenden zu erlernen: Übung, Übung und noch mehr Übung. Man kann Verzeihen lernen, indem man im Alltag möglichst oft Kleinigkeiten verzeiht. Der zweite Aspekt, der meiner Meinung nach einen großen Unterschied macht, ist die Frage, wer uns unrecht getan hat. Je näher uns diese Person steht, desto schwieriger ist das Verzeihen. Besonders schwierig ist es deshalb, Familienmitgliedern oder Freunden zu verzeihen. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Menschen gar nicht verzeihen möchten, weil es viele Missverständnisse darüber gibt, was damit eigentlich gemeint ist.
  • SPIEGEL: Welche Missverständnisse?
  • Enright: Zuallererst denken viele Menschen, dass man falsches Verhalten billigt, wenn man es verzeiht. Aber das eine hat mit dem anderen wenig zu tun. Nur weil ich etwas verzeihe, heiße ich es nicht gut. Beides schließt sich sogar aus. Meiner Auffassung nach ist das Verzeihen eine Tugend. Unrecht zu billigen ist eine unmoralische Handlung. Und eine Tugend kann niemals unmoralisch sein – sonst wäre sie keine Tugend. Andere denken an die Redewendung “vergeben und vergessen”. Aber zu verzeihen bedeutet ja nicht, eine Amnesie zu erleiden. Natürlich erinnert man sich weiterhin an die Verletzung. Nur quälen und verfolgen uns die Erinnerungen nicht mehr, wenn wir verzeihen können.
  • SPIEGEL: Und muss man sich auch versöhnen mit dem anderen?
  • Enright: Mir begegnet manchmal die falsche Annahme, dass Verzeihen automatisch Versöhnung bedeutet. Aber eine Frau, die aus einer gewalttätigen Ehe kommt, kann ihrem Ex-Mann verzeihen, ohne zu ihm zurückzukehren und sich zu versöhnen. Das Verzeihen ist eine innerliche Tugend. Versöhnung ist eine äußerliche Handlung. Und nicht zuletzt bringen viele Menschen Verzeihen nicht mit ihrem Gerechtigkeitssinn überein. Aber beides schließt sich nicht aus. Wenn Ihnen jemand 20 Euro stiehlt, können Sie demjenigen verzeihen und gleichzeitig das Geld zurückverlangen.
  • SPIEGEL: Wie definieren Sie Verzeihen dann?
  • Enright: Zu verzeihen bedeutet, gütig gegenüber jenen zu sein, die sich nicht gütig gegenüber Ihnen verhalten haben.
  • SPIEGEL: Sie gelten international als Pionier auf diesem Forschungsgebiet. Wie kam das?
  • Enright: Ursprünglich habe ich mich mit der Entwicklung von Moral bei Kindern beschäftigt. Aber irgendwann habe ich bemerkt, dass meine Arbeit nicht vielen Menschen nützt. Und ich habe mich gefragt: Was würde im Leben von vielen Menschen wirklich etwas bewirken? Ich kam gedanklich immer wieder auf das Verzeihen zurück und dachte mir, dass es dazu bestimmt jede Menge Forschung und Literatur geben müsse. Aber als ich mich dann in der Bibliothek auf die Suche begab – es war die Zeit vor dem Internet –, musste ich feststellen, dass es noch gar nichts dazu gab. Keine einzige Studie. Also habe ich eine Forschungsgruppe an der University of Wisconsin-Madison zu diesem Thema gegründet. Das war im Jahr 1985.
  • SPIEGEL: Am Anfang war es schwierig für Sie.
  • Enright: Wir lösten einen Proteststurm innerhalb der akademischen Welt aus. Das Thema galt als zu seicht. Es gab den Vorwurf, Vergebung sei etwas für die Theologie, nicht die Psychologie. Viele waren damals der Ansicht, ich würde meine Karriere und die Berufschancen meiner Studenten ruinieren. Aber mir war dieses Thema so wichtig, dass ich nicht auf die Kritiker gehört habe. Heute forschen Tausende Menschen zu dem Thema. Und viele, viele tausend Menschen haben in Therapien gelernt zu verzeihen.
  • SPIEGEL: Wann ist Ihnen aufgefallen, dass man den Prozess des Verzeihens in vier bestimmte Phasen einteilen kann?
  • Enright: Schon sehr früh. Als wir angefangen haben, uns mit diesem Thema zu beschäftigen, gab es zwar keine Studien, aber immerhin einzelne Fallgeschichten. Wir haben diese Fallgeschichten auf ihre Gemeinsamkeiten hin angeschaut und ein Vier-Phasen-Modell entwickelt.
  • SPIEGEL: Wie sehen diese Phasen aus?
  • Enright: Am Anfang geht es erst einmal darum aufzudecken, wie es im Inneren aussieht. Wir schauen zusammen mit dem Klienten noch einmal auf die Ungerechtigkeit und auf all die Folgen, die dadurch entstanden sind. Vielen Leuten ist gar nicht bewusst, wie verletzt sie eigentlich sind. Und wie sehr die erlebte Ungerechtigkeit ihr Glück behindert, ihre Resilienz, ihr Leben. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen in dieser Phase erst auffällt, wie viel Wut sie mit sich herumgetragen haben. Zum Beispiel haben wir eine Studie mit Teilnehmern durchgeführt, die in einem Hospiz gelebt haben. Einige von ihnen haben 40 Jahre lang eine Wut in sich gehabt.
  • SPIEGEL: Die Auswirkungen sind oft tief greifender, als den Menschen selbst bewusst ist?
  • Enright: Ja, dabei spielt oft eine große Rolle, dass Verletzungen zu einem veränderten Weltbild führen. Vor dem Ereignis hielten die Betroffenen die Menschheit im Großen und Ganzen für fair und vertrauenswürdig. Das ändert sich oft, wenn man ungerecht behandelt wird. Dann kann unser Blick auf die Welt sehr viel pessimistischer werden. Wir halten Menschen dann per se für egoistisch und gemein.
  • SPIEGEL: Was passiert in der zweiten Phase?
  • Enright: Das ist die Phase, in der die bewusste Entscheidung für das Verzeihen fällt. Die wichtigste Motivation ist dabei oft der Leidensdruck. Ich habe mir angewöhnt, die Menschen zu fragen, was sie bisher unternommen haben, um ihren Schmerz zu lindern. Und ob etwas davon geholfen hat.
  • SPIEGEL: Dann kommt die dritte Phase.
  • Enright: Diese Phase fällt den meisten Menschen sehr schwer, weil wir uns demjenigen widmen, der sie verletzt hat. Es geht darum, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wir beginnen deshalb beim kleinsten gemeinsamen Nenner. Ich frage in dieser Phase: Besteht der Mensch, der Sie verletzt hat, aus Zellen? Genau wie Sie? Sind Sie beide menschlich? Sind Sie beide einmalig? Sind Sie beide wertvoll – unabhängig von Ihrem Verhalten? Die Einsicht, dass wir mit dem Täter etwas teilen, kann die Wut zunächst sogar noch verstärken. Aber dies ist der entscheidende Punkt, an dem der Prozess des Verzeihens erste Früchte tragen kann.
  • SPIEGEL: Warum ist dieser Punkt so wichtig?
  • Enright: Ich habe mir nicht ausgesucht, dass es so ist, aber leider Gottes folgen wir oft einer bestimmten Logik. Wenn uns jemand verletzt, beginnen wir selbst zu glauben, dass wir wertlos sind. Es ist also entscheidend, dass wir dieses Muster durchbrechen. Wenn wir anerkennen, dass der Täter ein wertvoller und einmaliger Mensch ist, erkennen wir gleichzeitig auch an, dass wir selbst wertvoll und einmalig sind.
  • SPIEGEL: Wenn wir verzeihen, reparieren wir den Glauben an unseren Selbstwert?
  • Enright: Wenn wir verzeihen, können wir uns selbst heilen. Darum geht es.
  • SPIEGEL: Wie sieht die vierte Phase aus?
  • Enright: Wir bitten die Betroffenen, den Schmerz auszuhalten. Ihn zu tragen. Ihn nicht weiterzugeben. Mir ist bewusst, was ich von den Menschen verlange. Was für eine große Aufgabe das ist. Und es kommt in dieser Phase nun darauf an, dass die Betroffenen sich selbst auf diese Weise wahrnehmen können. Welche Größe sie haben – dass sie mehr sind als die Verletzungen, dass sie sich nicht durch die Ungerechtigkeiten definieren lassen. Sie machen der Welt damit ein großes Geschenk. Sie nehmen es auf sich, den Kreislauf aus Wut und Hass zu durchbrechen. In dieser Phase entdecken die Betroffenen sich selbst ganz neu.
  • SPIEGEL: Wie verändert es uns zu verzeihen?
  • Enright: Wir konnten in Studien zeigen, dass Symptome wie Wut, Angststörungen oder Depressionen zurückgehen können. Das Selbstwertgefühl steigt. Das Weltbild wird optimistischer. Ich habe oft erlebt, dass Menschen durch diese Erfahrung weicher und mitfühlender geworden sind. Sie verhalten sich empathischer gegenüber ihren Mitmenschen und gegenüber sich selbst. Und manchmal stiftet diese Erfahrung sogar einen neuen Sinn in ihrem Leben. Viele Menschen, die geheilt sind, haben danach das Bedürfnis, anderen zu helfen.

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